Die Rache des Auditors

Alles was passiert ist in Listen geschrieben

Qualitätsmanagement. Schon die alleinige Erwähnung des Wortes hat schon ganze Industriezweige aufstöhnen lassen. Es ist ja auch schwierig zu vermitteln, dass die bisher laufenden Prozesse nicht mehr gut sind, weil schlicht die Dokumentation fehlt. Schlimmer noch, wir verteilen Verantwortung und erwarten ernsthaft, dass jemand sie übernimmt. Das ist seit dem Beginn der Industrialisierung dermaßen gewachsen, nun, wir haben faktisch eine eigene Industrie geboren. Vergleichbar mit der Inquisition, in etwa. Ich stehe mittendrin. Dort, wo andere die Beine in die Hand nehmen und nie zurück schauen, wenn die Bugwelle der drohenden Überprüfung durch die staubigen Ablagen alter und ungültiger Dokumente schwappt. 


Unser Job wird von den Werkleitungen in die Kategorie der unproduktiven, nicht wertschöpfenden Prozesse eines Unternehmens gesteckt. Offiziell heißt es „unterstützende Prozesse“. Dies hat direkte Auswirkung auf den Ruf, den wir ständig zu verteidigen wissen. Bürokratische Papiertiger, Wachstumsbremsen und Innovationsstopper sind die eher harmlosen Begriffe, die dort geprägt werden. Ganz bitterböse Zungen nennen uns in einem Atemzug mit dem Finanzamt oder Ämtern im Allgemeinen. Was viele nicht ahnen: Da draußen herrscht Krieg! Im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt, heißt es. Seien Sie sicher, härtere Bandagen als in unserem Geschäft gibt es nur bei der Mafia. Es geht um Kennzahlen, um Jahresboni und vor allem um die Ehre.


Man kann eigentlich nicht direkt behaupten, wir wären unproduktiv, eher fehlt es uns an Wertschöpfung. Deswegen ist das Qualitätsmanagement auch ein Verein von Ingenieuren, die sich überall durchzukämpfen wissen. Sie haben keine Ahnung wie steif die Brise sein kann, die uns in den Gefilden der umsatzbeherrschenden Klasse entgegen weht. Ein schlechter QM-Ingenieur ist immer noch ein guter Seemann. Mindestens. Aber da wo ich meinen Mann stehe, kommt auch der Seebär nicht weiter. Hier sind Soldaten gefragt.


Den obersten Qualitätsmanager eines Werkes erkennen Sie an der bleichen Gesichtsfarbe und den leicht zittrigen Händen. Ständige Anspannung, wann die nächste Katastrophe bei einem der Kunden hereinbricht und man Rede und Antwort stehen muss. Sowohl beim vergrätzten Auftraggeber als auch bei der Werkleitung. Letztere ist so oder so schon auf Krawall gebürstet und Kunden, die wollen grundsätzlich die Lieferung der Waren verhindern. Das ist ein Gesetz der Arbeit. Ein derartig zittriges, angstvolles Männchen nannte auch ich einst meinen Chef. Er lief in ständiger Angst durch die heiligen Hallen der Wertschöpfung, so schnell, dass ihm praktisch niemand folgen konnte. Antrainiertes Fluchtverhalten in Perfektion. Nur sein Gehorsam eilte voraus und die Körpersprache drückte vor allem eins aus: „Sprechen Sie mich nicht an!“


In meiner damaligen Funktion staubte ich die alten Aktenschränke immer pünktlich vor dem Auftauchen eines Auditors fein ab. Angesichts der Tragweite, wird dieser Vorgang auch Auditvorbereitung genannt. Letztlich geschieht dabei aber nichts weiter, als dass den Fachabteilungen die ungültigen Dokumente heimlich weggenommen werden und die neuen unbemerkt in das Fach kommen. Bis zu dem Tag, an dem mir die Galle überlief. Schließlich wollte ich nicht die Sekretärin (ist jemanden aufgefallen, dass hier das Wort Sekret versteckt ist?) des Werkes sein. Ich forderte also alle Abteilungen auf, ihre Verfahren mit der von mir erstellten und gültigen Liste abzugleichen.


Ja. Was soll ich sagen? Ein Sturm der Entrüstung brandete durch das Werk. Was erlaube Schmidt? (Namen von der Redaktion geändert!) Ich verwies die erste Vorhut der Streitkräfte vor meinem Schreibtisch auf die Anforderungen der Norm und ließ mich nicht erweichen. Es kam, was kommen musste. Der Chef beorderte mich an seinen Pult. Ich konnte ihn erst nicht entdecken, saß er doch verdeckt von unendlich wirkenden Papierstapeln, zusammengesunken und bleich auf seinem Stuhl kurz vor dem Boden. Seine Finger zuckten im wilden Staccato hin und her: „Schmidt! Was haben Sie da angerichtet?“ stieß er hervor, um dann sofort aus seinem Sitz hochzuschnellen den Kopf wie ein wildes Huhn in alle Richtungen verdrehend die Umgebung zu inspizieren. Ich starrte ihn an. „Verdammt, Schmidt. Sie wissen doch. Die Indianer, die ganzen Heckenschützen. Die warten doch jetzt nur auf einen Fehler von uns! Wir sind erledigt!“ kreischte er und ließ sich keuchend in seinen Chefsessel fallen. Ich überlegte kurz, ob ich ernsthaft in Gefahr wäre. Immerhin stand ich bei einem Irren am Tisch. Ich entschied mich gegen den Krankenwagen und kostete die Sekunden seiner totalen Verwirrung genüsslich aus.


Mit der Norm als Gerte trieb ich die Abteilungsschäfchen vor mir her. Hier ein klarer Mangel, dort eine Hauptabweichung, wieder ein altes Dokument und überall nicht bewertete Kennzahlen. Von Prozessen wollte ich erst gar nicht anfangen. Über alle Vorgänge legte ich in praktisch minuziös ausgeführten Tätigkeitsberichten dem Chef meine Rechenschaft ab. Mit jedem Bericht wurden seine Haare weniger und grauer. Sein einst zackiger Stechschritt durch das Unternehmen wich einem an der Wand entlang schleichen. Vor einer grauen Wand verschwand er wie ein perfekt gefärbtes Chamäleon. Eines Tages schickte ich ihm per E-Mail eine Datei, begab mich an seinen Tisch und ließ ihn die Datei öffnen. Er sprang samt Sessel entsetzt von seinem Schreibtisch zurück: „Was ist das, Schmidt?“ bibberte er aus sicherer Entfernung. „Nun, das ist eine Excel-Datei. Eine Tabellenkalkulation. Darin habe ich die Liste aller Dokumente im Hause aufbereitet. Die einzelnen Spalten geben unter anderem den aktuellen Bearbeitungsstand der Fachbereiche wieder. Der Gesamterfüllungsgrad liegt bei 35% und übermorgen kommt der Auditor.“ Ich drehte mich um und ging.


Einen Tag vor dem von mir geplanten (beruflichen) Todestag meines Vorgesetzten sah ich es. Er hatte sich wieder hinter seinen Papierstapeln gekauert und wähnte sich unbeobachtet. Doch es war dunkel draußen. Ein Unwetter zog auf und das helle Licht des Büros ließ das Interieur samt Bedienstete in der Scheibe widerspiegeln. Er hockte über einem der alten Papierordner. Ich erkannte an der Farbe, was für ein Inhalt dieser hatte. Die alten Listen, die per Handaufschreibung geführt wurden. Ich warf mich auf den Boden und robbte unter den an der Wand stehenden Schreibtischen in seine Richtung. Wir waren zum Glück alleine im Büro. Ich fand ein auf den Boden gefallenes Stempelkissen und nutzte die Gunst der Stunde. Meine Verwandlung in einen Ledernacken war fast perfekt. Zumindest hatte ich diese Kriegsbemalung mit der Stempelfarbe recht gut hingekriegt. Ich drehte mich auf den Rücken und stieß mich mit den Füßen vorwärts. Ganz leise. Unter ihm angekommen, schlängelte ich mich behände wie selbiges Tier zwischen seinen dünnen Waden hindurch. Ich griff nach oben und versuchte ihm den Ordner zu entreißen. Er reagierte fast sofort. All seine Nerven mussten unter wahnsinniger Anspannung stehen. Seine Knöchel traten weiß hervor, während wir um den Besitz des Ordners rangen. Mit einem gellenden Schrei musste er loslassen. Er hatte lediglich eine kleine Grifffläche erwischen können. Ich rollte mich seitlich weg, sprang auf und hastete den Gang entlang.


Das hatte ich geahnt. „Herrgott! Chef. Das kann doch nicht ihr ernst sein! Was sollen das hier für Dokumente sein? Diese Nummern kenne ich nicht!“ herrschte ich ihn an. Er hatte die Liste der Dokumente um einige Einträge, die mit einem weichen Bleistift geschrieben waren, erweitert. Schriftstücke, von denen ich wusste, dass sie gar nicht existierten. „Schmidt, es geht um viel mehr als sie ahnen! Es geht um Schlösser und Bilder! Wir müssen sie bauen.“ „Mit Verlaub, Chef, erst mal müssen wir unsere Produkte bauen, dann darf geträumt werden.“ „Sie verstehen nicht. Wir müssen dem Auditor die Bilder bauen, die er sehen möchte. Nur so können wir überleben.“ „Chef, wenn er das spitzkriegt, dann sind sie tot. Ich gehe lieber ehrlich unter. Dann haben wir jede Chance es besser zu machen. Ach, und wissen sie vielleicht, wie man diese Stempelfarbe ohne Schmerzen aus dem Gesicht waschen kann?“


Die von meinem Vorgesetzten beschworenen Heckenschützen erwiesen sich als einigermaßen einsichtig. Nicht alle, aber der überwiegende Teil beteiligte sich im Endspurt an den Vorbereitungen. Letztendlich hatten wir ein recht ansehnliches Ergebnis erreicht. Wenn man bedenkt, wo unser Startpunkt gelegen hatte. Nur der oberste Q-Leiter sah sich nicht imstande, ohne Kummelei durch das Audit zu kommen. 


Ich begleitete den Tross, der sich mit dem Menschen vom TÜV durch das Werk wälzte. Ich sah  auch die Schweißperlen, die sich auf der Stirn des Mannes bildeten und die Halsschlagadern. Wer hätte gedacht, dass die so dermaßen anschwellen können? Fast in jedem Bereich gab es mindestens ein erlogenes Dokument. Das Fehlen wurde dann mit einem fadenscheinigen: „Ist in Erstellung.“ abgemildert. Aber ich konnte kurz vor der Pause keine Milde mehr in seinem Gesicht erkennen.


Folgende Situation beschreibt vielleicht in etwa die Umstände, die uns über den gesamten Tag begleiteten. Wir kommen in die Entwicklungsabteilung. Ein Hort der Gnade, denn die Ingenieure sind in aller Regel recht aufgeräumt und verlässlich. Es lief auch soweit ganz gut. Der Prüfer redete seit geraumer Zeit auffallend wenig und als er eine Zeichnung nach der anderen verlangte, sah ich den Chef leicht schwanken. Es pulsierte am Hals des Auditors und mir fiel sofort die Szene aus Alien ein, als dieses Monster durch die Bauchdecke seines Opfers gesprungen kam. In beinahe allen Zeichnungen war die Nummer einer Vorschrift vermerkt. Nur gab es das zugehörige Dokument nicht. Es war, auch das entging dem nun ernsthaft erbosten TÜV-Mann nicht, bereits vor Jahren mit Bleistift in eine Liste eingetragen worden. Der Hinweis dahinter besagte, es sei in Erstellung. Wie es der Teufel nun wollte, erkannte er auch, dass er damals, nun, belogen worden war. Wasser kondensierte außen an den Fenstern, als die Temperatur im Raum rapide sank.


Zum späten Nachmittag hin waren wir nur noch zu dritt unterwegs. Der Auditor sichtlich angeschlagen ob der ganzen Märchen. Es kochte ihn ihm. Ich sah den Zorn buchstäblich aus seinen Augen blitzen. Visionen von Thor und seinem Donnerhammer stiegen vor meinem Verstand auf. Schnell schluckte ich ein paar Traubenzucker, um der Unterzuckerung Herr zu werden. „Sagen Sie,“ fragte der TÜV-Mensch voller Milde und Verständnis in der Stimme, „gibt hier eigentlich ein Archiv für Dokumente? Ich meine, so einen alten, dunklen und feuchten Keller, wie ihn alle für die Ablage ihrer wichtigen Qualitätsaufschreibungen haben müssen.“ Ich betete um Hirn, aber es war zu spät. Richtig angespornt, weil er nun endlich in ihm bekannten Gewässern schippern durfte, nickte mein Chef wie wild mit dem Kopf und zog uns in Richtung der Katakomben.


Ich glaube ja, jedes Werk hat diese alten Keller, die bei Regen nur mit Gummistiefeln zu betreten sind. Dort, wo Ratten sich nicht zu schade sind, hinter einem das Licht auszuschalten. Einen Ort, an dem man Kartons aus den Augen der Menschheit verbannt und zur Sicherheit mit Ketten und Vorhängeschlössern sichert. Die alten Mythen von funktionierenden Strukturen werden dort begraben. Wer sie liest, wird ganz gewiss der Verzweiflung anheim fallen. Diese alten Dokumentenkeller sind wie der Baum der Erkenntnis. Danach kommt nur noch die Scham. Hin und wieder muss dann ein Trupp in Schutzanzügen hinuntersteigen und altes, modriges Papier als Sondermüll deklariert, in die Aktenvernichtung befördern. Das ist dann der Moment, in dem das Werk insgesamt tief aufatmet.


Nur einen kurzen Blick ließ der Auditor über die schlecht ausgeleuchtete Treppe nach unten wandern, um dann meinem Chef zu bedeuten, er solle vor gehen. Dieser setzte einen Fuß auf die oberste Stufe, als die Kellertür krachend in seinen Rücken schlug. Ich sah ihn fallen, kurz bevor die Tür uns die Sicht versperrte. Das TÜV-Monster drehte sich zu mir um, wedelte mit der Maßnahmenliste wie mit einem Aronstab vor mir herum, während es in seinen Augen wild aufblitzte. Ich trat einen ehrfürchtigen Schritt zurück: „So, mein Lieber. In sechs Monaten komme ich wieder. Sollte ich auch nur eine Lüge oder eine Nebelkerze entdecken, können Sie sich zu Ihrem Vorgesetzten an den Fuß der Treppe legen!“


Ok, ich gebe es zu. Diese Geschichte ist schon fast 10 Jahre alt. Sie steht auch schon in meinem anderen Weblog. Aber sie ist eine von den Erzählungen, die mir wichtig sind. Deswegen steht sie nun auch hier. Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen.