Ende des Jahres war also der erste #rC3, der erste virtuelle Chaos Communication Congress. Man hat sich da wirklich Mühe gegeben, also nicht einfach nur irgendwo im Netz auf Webstreams verlinkt, sondern ein bißchen für Immersion gesorgt in Form einer virtuellen Welt.
In Anfang-90er-Jahre-mäßiger 2D-Dreiviertelansicht à la Legend Of Zelda oder farbige grafische Tilesets für Nethack oder Dwarf Fortress. Obwohl wir doch heute ganz andere Möglichkeiten haben müßten. Virtuelle 3D-Online-Welten gibt’s schon ewig. 2003 kamen sie im Mainstream an mit Second Life. Warum hat man die nicht genutzt? Vor allem OpenSim?
Gründe dafür dürfte es genügend geben.
Erstens: die relative Unbekanntheit dieser Technologie. Selbst Second Life kennt heutzutage kaum mehr einer. Viele, die es während des Hypes Mitte der 2000er genutzt haben, wissen wiederum gar nicht, daß es immer noch existiert, geschweige denn, daß es immer noch weiterentwickelt wird.
Zweitens: ein gesundes Mißtrauen gegenüber proprietären, kommerziellen Diensten mit Zentralserver in den USA. Kurzum: Second Life ist pöhse. Und man wollte sowas unbedingt selber hosten. Was ja auch nachvollziehbar ist.
Mit OpenSim hätte man das auch. Aber drittens: der Unbekanntheitsgrad freier, dezentraler Alternativen. Wie so oft. Nur daß es derzeit nur eine ernsthafte Alternative gibt, und das ist OpenSim. Allerdings dürften selbst unter den noch aktiven Second-Life-Nutzern viele noch nie von OpenSim gehört haben, geschweige denn außerhalb. Kurzum: OpenSim kennt keine Sau.
Aber selbst wenn der CCC OpenSim gekannt und auch in Erwägung gezogen hätte, hätte es noch weitere Hürden gegeben.
Viertens: OpenSim wurde für Windows entwickelt und nicht für LAMP-Stacks. Es ist auch unter GNU/Linux lauffähig, aber dann braucht es Mono, weil es ursprünglich in .NET geschrieben wurde. Und der CCC dürfte einen Teufel tun und die virtuelle Ausgabe seines Speerspitzenevents komplett auf Windows hosten – auch deshalb, weil man überhaupt nicht genug Windows-Server zur Hand bekommen dürfte.
Fünftens: OpenSim skaliert schlecht, um nicht zu sagen, überhaupt nicht. Second Life dürfte durchaus die Fähigkeit haben, einzelne Regionen bei Bedarf auf ganzen Serverclustern zu fahren, wenn da viel los ist. Früher gab es ja auch mal Veranstaltungen, die von abertausenden Avataren auf einmal besucht wurden. Wie gut, daß es damals noch kein Mesh gab, denn beim Rezzen von mehreren tausend Mesh-Avataren würde selbst heute kein Viewer hinterherkommen.
In OpenSim wiederum ist es schon lobenswert, in einem Grid einzelne Sims auf eigenen Servern zu fahren. Veranstaltungssims haben häufig einen eigenen Server, während Privatsims, Wohnsims, Freebie-Sims etc. zusammen auf einem anderen laufen, weil da sogar zusammengenommen noch weniger passiert. Aber selbst dann braucht es bei einer Veranstaltung nur ein paar Dutzend Avatare mit in OpenSim häufig üblicher Ausstattung (Komplexität bei mehreren hunderttausend, Radar an, ZHAO-AO angehängt, vielleicht noch ein paar Extraskripte am Laufen), und die ganze Sim fängt selbst bei denen übelst an zu laggen, deren Avatar immer noch auf dem grundlegendsten Stand von 2007 ist.
Daß OpenSim unter „vernünftigen“ Betriebssystemen auf Mono läuft und nicht auf, sagen wir, Ruby on Rails oder dergleichen, ist dabei wahrscheinlich mit ausschlaggebend.
Was das ganze noch schlimmer macht, sind sechstens die gewaltigen Dimensionen des #rC3. Heise hat ja berichtet. Die doch relativ simple 2D-Welt brauchte an sich schon ein Netzwerk aus mehreren hundert Servern. Daß am Eröffnungstag allein in der Lobby 1600 Avatare aufeinandertrafen, sollte einen schon aufhorchen lassen. Die jährliche OpenSim Community Conference läßt meines Wissens insgesamt nur etwa 200 Avatare zu.
Die gesamten Nutzerzahlen des #rC3 kenne ich nicht, aber generell ist der Chaos Communication Congress ja ziemlich gut besucht, und beim #rC3 erübrigten sich ja noch dazu Anfahrt und Unterkunft. Ich kann nur schätzen, aber ich schätze, insgesamt dürften da mehr Avatare unterwegs gewesen sein, als derzeit das Hypergrid insgesamt registriert hat – inklusive Alts, Karteileichen und solchen, die beides sind.
Hätte der #rC3 auf einem eigenen geschlossenen Grid stattgefunden, wäre binnen kürzester Zeit das mit Abstand größte OpenSim-Grid aller Zeiten entstanden. Mit solchen Dimensionen hat niemand irgendwelche Erfahrungen.
Hätte er im Hypergrid stattgefunden – warum auch immer, denn die Welt des #rC3 war eine einzige Insel –, wäre das Hypergrid in nullkommanix auf ein Vielfaches seiner bisherigen Avatarzahl angewachsen. Zunächst einmal wäre das weiterhin nur für dieses Grid problematisch gewesen. Aber vielleicht wären die #rC3-Besucher dann auch noch auf die Idee gekommen, mal ein bißchen hypergridden zu gehen. Wäre eine prima Werbung fürs Hypergrid geworden, zumal es sich herumgesprochen hätte. Aber die Grids im Hypergrid hätten auf einmal mit einer regelrechten Flut an Besuchern klarkommen müssen. Und im Hypergrid fürchtet man heute schon insgeheim einen großen Exodus aus Second Life – weil man den nur aufnehmen könnte, wenn gleichzeitig etliche neue Grids gestartet würden. Und selbst dann würden populäre Veranstaltungslocations überrannt.
Ach ja, wo dann abertausende Avatare schon mal hypergridden gegangen wären, hätten deren User natürlich auch die einschlägigen Freebie-Sims entdeckt – und erstmal kostenlos ihre Avatare gnadenlos aufgepimpt. Wahrscheinlich hätte das #rC3-Grid aus Performancegründen nur Standardavatare mit Layerkleidung zur Verfügung gestellt, Komplexität jeweils 2.000. Aber so nach und nach wären aus dem Hypergrid tausende Avatare zurückgekehrt mit Meshbodys, Meshkleidung, Meshfrisuren, Mesh-Accessoires und einer Komplexität von über 200.000. Selbst auf fetten Highend-Gaming-Rechnern dürften Viewer kam mehr als zwei Dutzend solcher Avatare vernünftig darstellen können – wenn sie nicht vorher den Server crashen.
Siebtens hätten wir den Aufwand beim Aufbau der Spielwelt. So klein war ja die Welt des #rC3 nicht. Auch wenn sie sich nur aus 2D-Kacheln zusammensetzte, deren Auswahl überschaubar gewesen sein dürfte, hat es sicherlich lange gedauert, die aufzubauen.
In 3D hätte das Ganze noch sehr viel länger gedauert, vor allem, weil da natürlich die Ansprüche an die Qualität höher sind. Alleine das Terraforming und das Aufstellen vorhandener Assets hätte sehr, sehr lange gedauert.
Aber die Assets hätte man auch erstmal haben müssen. Klar, man hätte losgehen und sie sich von Freebie-Sims angeln können. Aber idealerweise hätte man dafür nur Sachen unter freien Lizenzen nehmen können. Das meiste Zeugs im Hypergrid steht aber unter gar keiner Lizenz, nicht mal Copyright, geschweige denn irgendeine Copyleft-Lizenz. Meines Wissens hat nur Linda Kellie ihre Kreationen unter Creative Commons gestellt.
Bei allem anderen ist noch nicht mal klar, ob es überhaupt legal ist, weil einfach zuviel gecopyrightetes, kommerzielles, eigentlich kostenpflichtiges oder überhaupt nicht für die Weitergabe vorgesehenes Material aus Second Life gecopybottet wurde, das sich dann übers ganze Hypergrid ausgebreitet hat. Man kann kaum mehr sagen, ob etwas jetzt geklaut ist oder nicht. Für den CCC wäre es der Super-GAU, wenn ihm während des #rC3 öffentlich – zu Recht, weil mit entsprechenden Nachweisen – vorgeworfen würde, seine schöne Onlinewelt aus Raubkopien aufgebaut zu haben.
Die Alternative wäre der Selbstbau gewesen, der wohl vor allem bei den Gebäuden sowieso noch am sinnvollsten gewesen wäre. Überall sonst von Wegen bis zu Pflanzen wäre er auch notwendig gewesen, um sich nicht von zweifelhaftem Content abhängig machen zu müssen. Das hätte natürlich als Vorteil fürs ganze Hypergrid eine Schwemme freier, legaler Objekte gehabt, an denen es immer noch mangelt, denn die Erbauer hätten sie definitiv unter freie Lizenzen und dann der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.
Aber zum einen hätte es noch mehr Zeit gedauert, die Welt zu erschaffen, als sowieso schon. Und zum anderen hätte es dafür die richtigen Leute gebraucht. Seien wir mal ehrlich: In Free-Software- und Hackerkreisen ist man schon seit Jahren derart auf minimalistische Window Managers und fast ausschließliche Benutzung von Konsolenanwendungen eingeschossen, daß endgültig niemand mehr auch nur eine annehmbare grafische Benutzeroberfläche bauen kann. Wie soll man da sowas wie glaubwürdige Bäume, Gräser oder Wegepflaster erwarten?
Achtens, und auch das ist ein Killerkriterium: OpenSim läuft nicht im Browser und ist auf die Installation eines Viewers angewiesen. Erstens bedeutet das natürlich Zusatzsoftware. Zweitens ist kein einziger Viewer sicherheitsauditiert. Drittens ist kein einziger Viewer in den Quellen irgendeiner GNU/Linux-Distribution verfügbar, will sagen, kein einziger Viewer wird irgendwie signiert verteilt. Und viertens hätte man den #rC3 nur mit denjenigen Systemen besuchen können, für die es Viewer gibt. Smartphones (außer denjenigen, auf denen ein modifiziertes Desktopsystem läuft) wären beispielsweise ebenso außen vor geblieben wie BSD.
Neuntens wäre die Wahl der Endgeräte noch weiter eingeschränkt worden durch den Leistungsbedarf des Viewers. Wenn man nicht gerade Highend-Hardware fürs Gaming zur Hand hat – und die meisten in der Zielgruppe des #rC3 haben so etwas entweder nur zum Numbercrunching à la SETI@Home oder überhaupt nicht –, hat man an OpenSim keine große Freude. Die Frameraten sind dann schon in einer einigermaßen ansehnlichen Welt ohne Avatare nur sehr niedrig – aus gutem Grunde gibt’s in den OSCC-Sims keine Pflanzen und nur relativ simple Bauten –, und wenn dann auch noch Avatare dazukommen, geht sie endgültig in die Knie.
Das hätte sich auch auf die Vorträge selbst ausgewirkt. Zehntens hätten die Vorträge ihre ganz eigenen Probleme mit sich gebracht. Man hätte sie per Video einspielen können, wie es jetzt ja tatsächlich war. Aber im Sinne der Immersion hätten die Vortragenden ihre Vorträge eigentlich wie auf der OSCC in-world auf einer Bühne mit einem eigenen Avatar halten müssen.
Zunächst einmal hätten sie dafür entsprechende Hardware gebraucht. Das heißt, wahrscheinlich hätte auch das kaum etwas gebracht, denn ihre Avatare hätten ja das ganze gigantische Publikum, je nach Vortrag also womöglich tausende Avatare, gleichzeitig vor der Nase gehabt – sofern der Server diese Avatarmassen hätte wuppen können.
Außerdem werden ja die CCC-Vorträge traditionell aufgezeichnet. Sagen wir, in OpenSim-tauglichen Viewern ist eine solche Funktion schon eingebaut, Screengrabbing wird man also nicht brauchen. Aber auch da hat man mit der Performance zu kämpfen – sogar noch mehr, denn von einem Online-Video wird natürlich eine bessere Qualität erwartet als von einem spontanen In-Game-Erlebnis. Wenn der Viewer derart an seinen Grenzen läuft, daß er ständig die Levels of Detail umschaltet oder gar von vornherein nur sehr niedrige auswählt, so daß womöglich noch das auf dem Bühnen-Backdrop Angezeigte überhaupt nicht mehr zu erkennen ist, dann kriegt man kein vorzeigbares Video aufgenommen. Und auch wenn es auch bei Video-Vorträgen zu Unwägbarkeiten kommt, können die in OpenSim noch häßlicher ausfallen, z. B. der Viewer des Vortragenden stürzt ab oder – noch schlimmer – der, mit dem die Präsentation aufgezeichnet werden soll.
Elftens: Last but not least gibt es keine zentral zusammengefaßte OpenSim-Community, die einem helfen könnte. Die Nutzerschaft ist einfach zu sehr fragmentiert, mehr noch als bei anderen dezentralen Projekten. Es gibt kein zentrales Forum, schon gar keine zentrale Mailingliste, keinen zentralen Matrix-Raum, kein gar nichts. Es hätte also alleine ewig gedauert, um Hilfe beim Aufbau eines Grid für einen Kongreß zu bekommen – und diese Hilfe hätte man womöglich auch nur in-world finden können, weil man an fähige Personen anders gar nicht herangekommen wäre.
Nun gut, die letzteren Punkte wären teilweise nicht von vornherein Ausschlußkriterien gewesen, denn man hätte sie erst bemerkt, wenn man einen virtuellen Kongreß in OpenSim wirklich hätte stattfinden lassen wollen. Das sind Erfahrungen, die man erst hätte machen müssen, um darauf aufzubauen und danach zu entscheiden. Vor der extrem langen Vorbereitungsphase und der mangelnden Eignung von OpenSim für riesige Avatarzahlen auf einen Haufen hätte die OpenSim-Community noch warnen können. Aber bei anderen Punkten wäre der CCC nichtsahnend auf die Schnauze gefallen, womöglich sogar erst während der eigentlichen Veranstaltung.
Alles in allem kann ich verstehen, warum man statt dessen from scratch eine ganz eigene 2D-Onlinewelt aufgebaut hat.
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